Rezension: von: Sabine Rittner, Erschienen in: Zeitschrift für Physiotherapeuten, 2006. München: Richard Pflaum Verlag.
Das Buch "Musiktherapie in der Neurorehabilitation", herausgegeben von Silke Jochims, besticht durch seine hochinteressanten internationalen Beiträge zum Forschungsstand im Schnittfeld von Musikrezeption, Musiktherapie und Neurowissenschaften.
Für Physiotherapeuten eröffnen sich gleich mit mehreren Beiträgen wertvolle Konzepte zur theoretischen Untermauerung des Einsatzes von Musik - hier im besonderen der rhythmischen Stimulation- in der Behandlung neurologischer Patienten. Speziell die meiner Meinung nach viel eher in der Physiotherapie als in der Musiktherapie anzusiedelnden Verfahren musikgestützter Gangtrainings für neurologische Patienten "Pulsierende Auditive Stimulation" (PAS) bzw. "Rhythmisch-akustische Stimulation" (RAS) haben ausgezeichnete klinische Daten aufzuweisen. So schreibt S. Mainka, einschlägige Erfahrungen aus der Praxis zeigten, "welch positive Wirkung es auf die Motivation der Patienten haben kann, wenn diese während ihrer Krankengymnastik Klänge produzieren und damit etwas übergeordnet Sinnhaftes tun" (S. 140). M. Thaut konnte in seinen Forschungen nachweisen, "dass musiktherapeutische Techniken, die ursprünglich für sozial-emotionale Bedürfnisse konzipiert wurden, bei neurologisch beeinträchtigten Patienten Bewegungsreaktionen hervorrufen, die durch andere Therapietechniken nicht ohne weiteres zu erreichen wären" (S. 185).
Einen sehr wichtigen Beitrag, der allen ambulant wie stationär arbeitenden therapeutischen und medizinischen Berufsgruppen dringlichst ans Herz gelegt sei, liefert S.Jochims über "Risiken und Chancen der Musikbeschallung - Überlegungen und Anregungen aus der Praxis". Sie kommt zu dem Schluß, "dass Hintergrundmusik bei Hirnverletzungen, ob im Zustand des Wachkomas oder in späteren Stadien, m.E. eher schädlich als hilfreich ist" (S. 204). D. Gustorff, Pionierin in der musiktherapeutischen Arbeit auf Intensivstationen, bereichert das Buch mit ihrer 15-jährigen Erfahrung im behutsamen, wohl dosierten Singen für Komapatienten. Am Ende des Buches fasst Jochims alle bestehenden Musiktherapiekonzepte in einem differenzierten Methodenüberblick zusammen, der, zwischen Indikation, Zielen und Techniken unterscheidend, interessante Anregungen für die Praxis bietet.
Vom Verständnisniveau her ist das Buch teilweise recht anspruchsvoll, bietet jedoch für forschungsinteressierte Therapeuten hervorragendes Grundlagenwissen zum "state of the art" auf diesem hochkomplexen, fachübergreifenden Gebiet der Neurorehabilitation. Mit seinen 446 Seiten erfordert es beim Lesen einiges Durchhaltevermögen; es eignet sich wesentlich besser als vertiefendes Nachschlagewerk, als das es auch konzipiert ist. Dem Anspruch, Forschung und klinische Praxis gleichermaßen abzudecken, wird das Buch sicherlich nicht ausreichend gerecht, es füllt aber eine seit Jahren existierende Lücke der Theoriebildung.
Das Buch kann einen wichtigen Beitrag für die Weiterentwicklung "multi"-disziplinärer Therapeutenteams hin zu integrativ arbeitenden "inter"-disziplinären Teams leisten, indem es den fachlichen Horizont erweitert und wichtige, wissenschaftlich evaluierte Anregungen für den aktiven und rezeptiven Einbezug von Musik in die Therapie neurologischer Patienten gibt. Gemeinsam mit dem 2004 erschienenen, sehr viel praxisorientierteren Buch "Zwischen-Welten: Musiktherapie bei Patienten mit erworbener Hirnschädigung" (herausgegeben von Monika Baumann und Christian Gessner, Reichert Verlag) liegen nun für diejenigen Physiotherapeuten, die integrativ arbeiten und am medizinisch-therapeutischen Potenzial der Musik interessiert sind, zwei hervorragende Grundlagenwerke vor, die ich beide wärmstens empfehlen kann. Eine derartige fachliche Fundierung hätte ich mir in den achziger Jahren während meiner eigenen musiktherapeutischen Tätigkeit in der Neurorehabilitation wirklich erträumt.
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